Aristoteles: Nikomachische Ethik
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Buch I, 13 - Teil 4
"So hat sich denn erwiesen, dass (gleich der ganzen Seele) auch das Irrationale zweifacher Art ist: da ist erstens die vegetative Grundlage, die keinerlei Anteil hat am Rationalen, und zweitens das Begehrungsvermögen - mit einem umfassenden Ausdruck: das Strebevermögen. Dieses hat in bestimmter Weise Anteil am rationalen Element, insofern es auf dieses hinzuhören und ihm Gehorsam zu leisten vermag. In diesem Sinne sagen wir denn auch: "ich habe ein rationales Verhältnis zum Rate des Vaters oder der Freunde" (= ich gehorche ihm), meinen das also nicht wie: "ich habe ein rationales Verhältnis zu Gegenständen der Mathematik" (= ich beherrsche sie intellektuell).
Dass übrigens das Irrationale sich in gewissem Sinne vom Rationalen bestimmen lässt, darauf weist schon die Tatsache des Mahnens hin sowie jegliche Form des Zurechtweisens und Aufmunterns. Wenn man nun also sagen muss, dass auch diese seelische Kraft (das Strebevermögen) ein rationales Element in sich trägt, so muss auch jener (zweite) Teil der Seele, nämlich der Irrationale, einen Doppelcharakter haben: ein Teil hat das Rationale im eigentlichen Sinn und in sich selbst, während ein zweiter das Vermögen besitzt "hinzuhören", so wie ein Kind auf den Vater hört. Nach dieser Unterscheidung wird nun auch die sittliche Trefflichkeit unterteilt.
Wir sprechen nämlich teils von Vorzügen des Verstandes (dianoetische), teils von Vorzügen des Charakters (ethische). Die Weisheit (des Philosophen), Intelligenz und sittliche Einsicht sind Verstandesvorzüge, Grosszügigkeit und Besonnenheit sind Charakterwerte. Wenn wir nämlich den Charakter eines Menschen bezeichnen, so sagen wir nicht, er ist weise oder intelligent, sondern, er ist von vornehm-ruhigem Wesen oder besonnen. Allerdings loben wir auch den Weisen wegen seiner (geistigen) Haltung. Haltungen aber, die uns zu Lob veranlassen, nennen wir Wesensvorzüge."