Aristoteles: Verhalten zur Ehre
(aus dem Buch: Nikomachische Ethik, Buch IV, 10)
"Es scheint aber in unserem Verhalten zur Ehre auch eine treffliche Form zu geben, wie wir schon bei der ersten Skizzierung des Themas festgestellt haben, die sich zur Hochsinnigkeit ähnlich verhalten dürfte wie die Großzügigkeit zur Großgeartetheit. Diese Form nämlich und die Großzügigkeit sind beide fern von dem ganz großen Stil, dagegen bringen sie uns in das richtige Verhältnis zu Dingen, denen nur eine durchschnittliche oder eine geringe Bedeutung zukommt.
Wie es beim Geben und Nehmen von Geld und Geldeswert Mitte gibt und Übermaß und Unzulänglichkeit, so gibt es auch beim Streben nach Ehre und Ansehen sowohl ein Zuviel als ein Zuwenig, ferner ein richtiges "Woher" und eine richtige Weise: so tadeln wir den Ehrgeizigen, weil er im Übermaß auf Geltung aus ist und nicht auf das richtige "Woher" achtet, und wir tadeln den Nicht-geltungssüchtigen, weil er nicht einmal bei ehrenvollem Anlaß willens ist, sich für Ehre zu entscheiden.
Freilich kommt es bisweilen vor, dass wir dem Ehrgeizigen Anerkennung zollen, sofern er mannhaft und ein Freund des Edlen ist, und dem gegen Ehre Gleichgültigen, sofern er maßvoll und besonnen ist: darüber haben wir schon bei der ersten Skizzierung des Themas gesprochen. Der Begriff "Freund von diesem oder jenem" wird in mehrerlei Bedeutungen gebraucht.
Es ist infolgedessen klar, dass wir den Ehrgeizigen nicht immer an ein und demselben Maßstab messen, sondern wenn wir ihn loben, denken wir daran, dass er die Ehre mehr liebt als die Vielen, und wenn wir ihn tadeln, dass er sie mehr liebt als richtig ist. Da die richtige Mitte keinen Namen hat, erheben die Extreme gleichsam Anspruch auf den Platz in der Mitte, wie wenn er freistünde. Indes, wo es ein Zuviel und ein Zuwenig gibt, da gibt es auch das Mittlere.
Nun streben aber die Menschen nach Ehre bald in heftigerem, bald in geringerem Grade als richtig wäre. Folglich gibt es doch auch das richtige Verhalten. Klar ist jedenfalls, dass diese Haltung lobende Anerkennung findet, eben als richtige Mitte in Hinsicht auf das Streben nach Ehre. Nur der Name fehlt. Wenn man sie dem Ehrgeiz gegenüber stellt, erscheint sie als Gleichgültigkeit, gegenüber
der Gleichgültigkeit aber als Ehrgeiz und mit beiden zusammengestellt scheint sie irgendwie beides zusammen zu sein. Das kann man übrigens auch bei den anderen Formen eines trefflichen Verhaltens beobachten. Hier allerdings scheinen die Vertreter der extremen Haltungen nur zueinander im Gegensatz zu stehen, weil der Vertreter der Mitte keinen Namen erhalten hat."